Wenn dir jemand erzählt hätte, dass „Corpse Catchers“ und „Sheep Shaggers“ zu deinem alltäglichen Vokabular gehören würden, während du mit 15° Schräglage durch die Nordsee rauschst – hättest du es geglaubt?
Genau so sah mein Törn auf der Alexander von Humboldt II beim Tall Ships Race 2025 von Aberdeen nach Kristiansand aus.
Als langjährige SKBUe-Mitseglerin gehört für mich seit meiner Kindheit das Fahrtensegeln einfach zu den Sommerferien. Angefangen habe ich mit dem Opti, nahm Fahrt auf mit den Jugendtörns und führte mich über die Vermittlung von Segelscheinen bis hin zur Mitbetreuung der Ferienprogramme für unsere jüngeren Segler:innen. Aktuell segle ich, wenn es Studium und Job erlauben, vor allem Jollen – meistens Hobies – aber die Gelegenheit zum Fahrtensegeln suche ich jedes Mal aufs Neue.
Doch in diesem Sommer sah es erst mal nach segelfreien Semesterferien aus. Kein Törn für Studierende, kein passender gemeinsamer Trip auf einem unserer Vereinsboote. Statt zu resignieren, habe ich mich anderswo umgesehen – und bin dabei auf die Sail Training Association Germany (STAG) und ihr Förderprogramm für Jugendliche gestoßen. Hier bot sich die Chance, nicht nur auf einem traditionellen Großsegler mitzusegeln, sondern Teil eines internationalen Abenteuers zu sein. Ich bewarb mich kurzerhand für einen Törn auf der Alexander von Humboldt II. Das hier ist mein längster Törn bisher, und das größte Schiff, das ich je gesegelt bin. Denn beim SKBUe reichen unsere Boote nicht über die 46 Fuß hinaus – ganz anders beim Tall Ships Races. Die Alex mit ihren 65 Metern würde eine völlig neue Dimension sein.
Dieser Bericht ist Teil der Jugendförderung, um zu zeigen, was die STAG jungen Segler:innen ermöglicht und wie wertvoll diese Erfahrungen sind. Mein Dank gilt daher sowohl der STAG, die mir diese unvergessliche Erfahrung ermöglicht hat, als auch dem SKBUe, der meine Segelausbildung von Anfang an begleitet hat.
Die Alex und die Tall Ships Races
Die Alexander von Humboldt II, gebaut 2011 in Bremen, ist eine dreimastgetakelte Bark mit 65 Metern Länge und 1.360 Quadratmetern Segelfläche. Ihr charakteristisches Grün – sowohl Rumpf als auch Segel – erinnert an die legendäre Vorgängerin und die Segelschiffe der Bremerhavener Rickmers Reederei.

Die Tall Ships Races, ausgetragen von Sail Training International, sind weit mehr als eine Regatta. Seit dem ersten Race 1956 steht die Völkerverständigung sowie das Weitergeben des Wissens an junge Segler:innen im Mittelpunkt. Mindestens die Hälfte der Crew müssen zwischen 16 und 25 Jahre alt sein. Es geht nicht primär um Geschwindigkeit, sondern um Sail Training, um persönliche Entwicklung und internationalen Austausch. Gefördert wird dies durch die Sail Training Association Germany (STAG), deren Motto – „Die See ist unsere Brücke – Sie verbindet Länder und Völker“ – ich in den kommenden Tagen hautnah erleben sollte.
Aberdeen: Silver City und Segelparade
Zu meiner Ankunft in Aberdeen ist gefühlt ganz Schottland auf den Straßen. Mit über 400.000 erwarteten Besuchern stellten die Tall Ships Races Schottlands größte Veranstaltung des Jahres dar. Einen Tag vor dem Ablegen traf ich bereits in meiner Unterkunft auf Thorben, einen dänischen Segler von der Christian Radich. Zusammen erkundeten wir Aberdeens Pubs bei Fish & Chips und Guinness. „Wir sehen uns wieder“, versprachen wir uns – und sollten Recht behalten.

Am nächsten Tag: Einchecken, Koje beziehen mit meinen Zimmernachbarinnen, und Zuteilung zur 0-4-Wache – der „internationalen“ Wache mit Schotten aus Aberdeen und von den Shetland-Inseln. Schottisch zu verstehen, besonders wenn man müde ist, erwies sich als Herausforderung. Dafür lernte ich schnell: Die Shetland-Inseln sind das schottische Äquivalent zum Saarland – ihre Bewohner werden liebevoll „Sheep Shaggers“ genannt. Aber auch die Schott:innen lernten essenzielle Worte wie „Hol weg!“, „Festmachen und belegen!“ und “Anzeige ist raus!”.
Der Morgen des Ablegens begann mit Dudelsackmusik über die Lautsprecher. Nach Sicherheitsübungen und Riggeinweisung, bei der ich dem Besan-Topp-Segel zugeteilt wurde, fiel um 13:06 Uhr unsere letzte Leine. Hier erwies sich das Übersetzen von Schiffsbegriffen als besonders lustig – so setzten wir die „Corpse Catcher“, die Leichenfänger an Deck.

Noch in der Hafenausfahrt setzten wir zur Freude der Menschenmassen die Untermarsen, gefolgt von den Obermarsen und mehreren Stagsegeln. Die Alex präsentierte sich in Grün. Die Segelparade vermittelte eine Ahnung davon, wie es zur Zeit der Windjammer ausgesehen haben muss – so viele große Rahsegler so nahe beieinander.
Trotz des Applaus blieb jedoch die Windstille. Bei 0 Beaufort dümpelten alle Schiffe herum, der Start wurde verschoben. Endlich um 18:30 Uhr: All Hands, Segel setzen. Um 19:05 Uhr gelang uns ein sehr guter Start – als erstes Schiff über die Linie. Die Segelpyramiden im Gegenlicht, vor dunklen Wolken, mit ihren großen Landesflaggen – so ein Moment bleibt unvergessen.
Das Race: Von der Pantry aus der Hölle bis zum Sternenhimmel

Der Wind entschuldigte sich für seine Verspätung, indem er nachts immer stärker blies. Bei 6 Beaufort düste die Alex mit 9-10 Knoten durch die Nacht. Die 0-4-Wache brachte es auf 35 Seemeilen, die 4-8-Wache sogar auf 37. Am Morgen freuten wir uns über Platz 9 von 16 Schiffen der Class A.
Mir blieb die erste Nachtschicht verschont, da ich direkt Backschaft hatte. Ab 6:30 Uhr bis nach dem Abendessen bedeutete das bei 15° Schräglage: Tische decken, beim Essen helfen, Schränke putzen. Das Bewegen durch die Messe wurde zum Bergsteigen. Die absolute Krönung: Die Pantry aus der Hölle nach dem Abendessen. Es gab Fisch – und es roch nach Fisch. Alles war fettig. Ab einer bestimmten Schräglage leitete die Spülmaschine kein Wasser mehr ab, stattdessen floss alles auf den Boden. Mit einem Wassersauger versuchten wir, die Pantry trocken zu legen. Ein dramatischer Moment, in Retrospektive jedoch sehr, sehr lustig.

Nach kurzem Schlaf folgte meine nächste Nachtwache. Der Ausguck wurde zu meiner Lieblingsposition – nach neuen Lichtern am Horizont schauen und diese beim Steuermann melden. Hier konnte ich innehalten, umgeben vom Meer, Wind und einem unglaublichen Sternenhimmel, umrahmt von den Segeln der Alex. Diese Momente der Stille hatten etwas Magisches.
Im Endspurt trimmten wir bei jeder Kursänderung wie die Weltmeister. Um 05:20 Uhr UTC war es soweit: Wir segelten nach 266 Seemeilen über das Ziel. Das Ergebnis: Platz 8 in Class A von 16 Schiffen, insgesamt Platz 10 von 40 Schiffen. Eine beachtliche Leistung.
Norwegen: Schären, Fjorde und Ceilidh-Tanzen

Nach dem Race hatten wir viel Zeit für Sail Training – fünf Halsen an einem Tag. Nachdem wir tagelang bei starker Krängung über die Nordsee gedüst waren, wurde es friedlich. Bei aufgehender Sonne segelten wir den norwegischen Schären entgegen – jenes Labyrinth aus kleinen Inseln und Felsen. Die bizarre Landschaft konnten wir lange unter grünen Segeln genießen.
Unser erstes Ziel war Båly, das Assoziationen mit Bullerbü erweckte. Bei 25°C und Sonnenschein sprangen wir mehrfach täglich ins glasklare Wasser. Mit dem Beiboot fuhren wir in den Lenefjord – einen 220 Meter tiefen Fjord mit steilen Berghängen. Die Alex war so groß, dass ihr Mast sich über die Häuser am Hafen erstreckte – ein bizarrer Anblick.

Fast gegenüber der Alex liegt das renommierte Unterwasser-Restaurant UNDER, das wir besichtigen durften. Ein architektonisches Meisterwerk 5,5 Meter unter der Meeresoberfläche mit einem mehrere Meter langen, 25 cm dicken Panoramafenster, das einen spektakulären Blick auf die Unterwasserwelt bietet.
In Arendal schwammen wir am Stadtstrand im unglaublich warmen Wasser. Abends gab es eine Crew-Party an Deck mit unserem Lieblingssong der 0-4-Wache – „I Kissed a Girl“ von Katy Perry. Wir tanzten Ceilidh, einen schottischen Volkstanz, bis wortwörtlich die Polizei kam.
Kristiansand: Das große Finale
Die letzte Nacht auf See brachte noch einmal 8 Beaufort. Große Aufregung verursachte jedoch eine unserer Antirutschmatten, die beschloss, schwimmen zu gehen. Was folgte, war ein lehrbuchmäßiges „Decke-über-Bord“-Manöver. Schließlich kam Hilfe von zwei Jet-Ski-Fahrern. Jubel an Deck.

Durch Zufall war Kathrin vom SKBUe zur gleichen Zeit in Kristiansand und konnte die Alex besuchen. Thorben bekam ebenfalls eine Tour der Alex – im Austausch gab er uns eine ausgiebige Führung der Christian Radich. Der Vergleich zwischen der norwegischen Vollschiff-Bark von 1937 und unserer deutschen Bark von 2011 war unglaublich spannend.
Ich hatte mich für das Beachvolleyball-Turnier eingetragen und versuchte, unser Schiff zu repräsentieren. Höhepunkt war die große Crew-Parade. Die Crews aller Schiffe zogen durch die Stadt. Die Alex zeigte sich ganz in Grün. Mit einer spektakulären Performance begeisterten wir die Zuschauer – und gewannen den 1. Preis für die beste Crew-Parade.
Die Crew-Party war legendär: DJs, Live-Bands, und als Höhepunkt hatten die Veranstalter Schnee aus Oslo kommen lassen und eine Piste aufgebaut, auf der alle Schlitten und Ski fahren konnten.
Was bleibt
Dieser Törn lehrte nicht nur die Mechanik des Segelns, sondern auch das Leben auf einem 65-Meter-Schiff mit internationaler Besatzung. Das Dreiwach-System strukturiert den Tag in einem Rhythmus, der Disziplin und Durchhaltevermögen verlangt. Die „All Hands“-Rufe erfordern sofortige Zusammenarbeit, unabhängig von Erschöpfung oder Übelkeit.
Zum Abschied gingen wir als Wache noch ein Eis essen und ließen die Tage Revue passieren. Nummern wurden getauscht, Fotos geteilt, so manche Abschiedsträne rollte.
Die grünen Segel der Alexander von Humboldt II trugen uns 266 Seemeilen von Aberdeen nach Kristiansand und schweißten dabei eine Crew zusammen, die sich noch lange an Corpse Catchers, Sheep Shaggers, die Pantry aus der Hölle, konstantes „Hol weg“-Rufen und die beste Crew-Parade des Tall Ships Race 2025 erinnern wird.
Törnbericht von Merle Hillerkus
